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SCHULE FÜR STÄDTISCHES HANDELN

Christoph Breitsprecher

MEHRSPRACHIGKEIT IN DER STADT

Wenn ich mitten im Satz kurz ins Englische verfalle, weil ich vorhin eine US-amerikanische Fernsehserie im Originalton geschaut habe, fällt das sicher unter Mehrsprachigkeit.

Wenn ein Krankenpfleger für deinen Bekannten das Aufklärungsgespräch mit der Ärztin laienmäßig dolmetscht, ist das Mehrsprachigkeit. Wenn bei der öffentlichen Veranstaltung »Gegengewichte zum Krieg« neben dir flüsternd ins Arabische übersetzt wird, ist das Mehrsprachigkeit. Wenn beim Café Nova in deiner Nachbarschaft beim gemeinsamen Kochen die mitgebrachten Sprachen getauscht werden: Mehrsprachigkeit. Wenn du von der traumatisierten Geflüchteten liest, die mittels qualifizierter Sprachmittlerin eine Therapie machen kann, dann ist das – wie selten auch immer – Mehrsprachigkeit.
Wenn ihr in einem Workshop sitzt und ohne gemeinsame Sprache mit allen zusammen euer Wissen erweitern wollt, braucht es Mehrsprachigkeit. Wenn du (noch) nicht so gut Deutsch kannst und trotzdem versuchst, diesen Text zu lesen, dann nutzt du deine Mehrsprachigkeit. Wenn dein Vermieter auf Usedom alles im Ferienhaus auf Deutsch beschriftet, aber die Warnschilder vor Einbruch auf Polnisch, dann ist auch das Mehrsprachigkeit. Wenn du liest, dass Asylbewerber*innen bei ihrer Anhörung Angst vor einzelnen Tigrinya- Dolmetscher*innen haben, die als regierungstreue Eritreer*innen gelten – ebenso: Mehrsprachigkeit. Wenn deine Bekannte den Teilnehmer*innen »ihrer« Integrationskurse doch zwischendurch ihre Muttersprachen erlaubt, obwohl ausschließlich Deutsch gesprochen werden soll, dann ist auch das Mehrsprachigkeit, wie sie hierzulande praktiziert wird.

Wenn nun heutzutage jemand aus der boomenden linguistischen Mehrsprachigkeitsforschung zu solchen Beobachtungen gefragt wird, dann darf man mit Begrifflichkeiten rechnen wie super- (z.B. -diversity), metro- (vermutlich -lingualism), multi- (meist -competence), poly- oder trans- (mit -languaging) sowie (language) crossing. Und diese Menge und Vielfalt kommen nicht von ungefähr, sondern sind Ausdruck einer Spirale aus erhöhter Aufmerksamkeit für und enormer Vervielfältigung von mehrsprachigen Praxen. Auslöser dieser Dynamik sind Globalisierungsbewegungen, die nationalstaatliches Denken auch hinsichtlich seines Sprachverständnisses untergraben – zumal in Ländern wie der BRD, wo nur eine Amtssprache für einen guten Teil der nationalen Identitätsbildung herhalten muss.

Und man darf in der Angewandten Mehrsprachigkeitsforschung – diesem verbreiteten monolingualen Habitus zum Trotz – außerdem damit rechnen, dass sprachlich vielfältige Praxen inzwischen nicht mehr als Problem, sondern als Ressource bzw. Potential betrachtet werden. Und überhaupt »Praxen«! Es geht nun nicht mehr so sehr um unterschiedliche Sprachen und den Kontakt zwischen deren Systemen, sondern es geht – nicht zuletzt unter dem Druck konkreter gesellschaftlicher Problemstellungen – darum, was Sprecher\*innen mit ihren diversen Sprachkenntnissen tatsächlich anfangen – bzw. an welche Grenzen sie in welchen Konstellationen stoßen.

Graphic Comment: Christoph Schäfer

Fragt man aber jemanden, der Sprache als praktisches Bewusstsein und System historisch-gesellschaftlicher Handlungswege, Zweckstrukturen und Institutionen versteht, fragt man also in diesem Fall mich, was das denn bitteschön aktuell für ein Bild ergibt, dann muss man eine Antwort wie diese erwarten:

Offenkundig gibt es eine Reihe scharfer Kontraste und Widersprüche: zwischen unüberschaubar vielen mehrsprachigen Realitäten und oft fehlender Akzeptanz und Wertschätzung dafür; zwischen breiter öffentlicher Aufmerksamkeit für Mehrsprachigkeit und ihrer mangelhaften Verankerung in so gut wie allen Institutionen; zwischen der Bedeutsamkeit von Mehrsprachigkeit für Zugänge zu gesellschaftlichen Gütern und ihrer weitgehend fehlenden Anerkennung als allgemeines Rechtsgut.

Wie sollen wir uns aber in diesen Widersprüchen bewegen, wenn wir sie nicht akzeptieren wollen? Und wo ist es am aussichtsreichsten anzusetzen? Auch hier scheint mir Altbekanntes mögliche Wege aufzuzeigen:

  • »Es gibt nichts Gutes – außer man tut es«: mehrsprachige Praxen ermöglichen, experimentell zum Funktionieren bringen und schließlich das gewonnene Wissen anderen zugänglich machen.

  • »Ketten bilden« (1): mehrsprachige Praxen verbinden, um die dahinter stehenden Orte und Sprecher gegen den gesellschaftlichen Monolingualismus zu stärken.

(1) 1 Jochen Rehbein: Sprachen, Immigration, Urbanisierung – Elemente zu einer Linguistik städtischer Orte der Mehrsprachigkeit. In: Pere Comellas (Hg.): Recerca i gestió del multilingüisme (Mehrsprachigkeits- forschung und -management). Münster, New York, Berlin: Waxmann, 2010, S. 81–116
  • »Den Marsch durch die Institutionen antreten« (2) (neudeutsch: »It’s the institutions, stupid!«): den schrittweisen Einbau mehrsprachiger Praxen z.B. in Behörden fördern und fordern, denn nur mit der Perspektive eines strukturellen Umbaus solcher staatlichen bzw. öffentlichen Einrichtungen wird die gesellschaftliche Marginalisierung migrantischer Herkunftssprachen zu überwinden sein.

  • »Geld ist genug da!« – die allgemeine Sprachideologie gegen konsequente gesellschaftliche Mehrsprachigkeit ist auch und vor allem eine ökonomische und sollte (wie ganz allgemein das »Spar«diktat in diversen sozialen Bereichen) als völlig verfehlte Politik kritisiert werden, denn sie verspielt nicht nur Chancen und Entwicklungspotentiale, sondern ignoriert akute gesellschaftliche Konfliktpotentiale und nimmt die Verschärfung von Spaltungstendenzen in Kauf.

(2) Jochen Rehbein: The Future of Multilingualism – Towards a HELIX of Societal Multilingualism under Global Auspices. In: Kristin Bührig und Bernd Meyer (Eds): Transferring Linguistic Know-How into Institutional Practice. Amsterdam/ Philadelphia: John Benjamins, 2013, S. 43–80.